Die Reeperbahn und der Stadtteil Sankt Pauli stehen vor einem gewaltigen Umbruch. Die Touristen bleiben aus, die Clubs und Tanzbars sind nach wie vor geschlossen und die Umsätze ohne die Großveranstaltungen des Sommers sind in Gastronomie und Kneipen sehr sehr mager.
Und jeder ahnt, dass es im Herbst nicht unbedingt besser wird, wenn die Menschen drinnen feiern wollen, aber die Infektionsrate steigen wird.
In keinem Stadtteil zeigt sich so offen, wie die vielen wirtschaftliche Räder in einander greifen. Die vielen Solo-Künstler stehen vor einem privaten Ruin. Die selbstständigen Eventtechniker und Tourguides haben kaum Aufträge. Die Säle sind zu und das Rotlicht hat Berufsausübungsverbot.
In dieser unsicheren Zeit, zeigen sich die vielen Gesichter Sankt Paulis.
Krativität nur im Protest?
Tief in der DNA des Stadtteils ist vor allem der Protest verankert. In vielen Aktionen präsentieren sich die Interessensvertreter sehr kreativ. Die Gästeführer sangen vor dem Rathaus „Auf der Reeperbahn nachts um halb eins“. Die Bar- und Clubszene erhellte für kurze Zeit die Große Freiheit und ließ staatstragend die ansässigen Pfarrer eine Schweigeminute abhalten. Das Barkombinat verhüllte für einen Moment ihre Fassaden, wie einst Christo, mit dem Hinweis „geschlossen“. Die Eventtechniker erhellten bundesweit Plätze und Gebäude in der Warnfarbe rot. Und mit der Aktion „Auf St. Pauli brennt noch Licht“, meldeten sich nochmals die Clubs zu Wort.
Im Protest ist der Stadtteil vereint und kreativ.
Doch wie sieht es mit tatsächlich gelebter Gemeinsamkeit aus. Kann das Sankt Pauli? Umdenken? Anders denken? Oder ist es eben nur im Prostet solidarisch, wenn es kurzfristig um die Bündelung von Partikularinteressen geht.
Ideen in der Krise
Es gibt Beispiele. Der Solo-Selbständige Roun Zievrink macht Küchenkonzerte mit Sängern und Sängerinnen und bietet ihnen so eine Bühne und vor allem Publikum. Spenden kann man für das Projekt übrigens hier.
Der Elbschlosskeller hat sich von einer Kneipe zu einer Sozialstation für Obdachlose entwickelt. Das Erotic Art Museum machte eine dreitägige Vernissage und shuttelte mit einem Limousinenanbieter seine begrenzten Gäste zu einer Galerie in die Hafencity, wo der Rest der Ausstellung zu sehen war.
Doch es liegen noch viel mehr Konzepte auf dem Tisch: z.B. Silent Discos, wo Gäste sich einen Kopfhörer mieten und zu einem Stream aus einem Club durch die Straßen tanzen können, Kunstausstellungen in den geschlossenen Bordellen oder der Herbertstrasse selbst, was die angrenzenden Bars beleben würde. Die temporäre Absperrung ganzer Straßen, wie es für die Paul-Roosen-Straße vorgesehen war, um mehr Außengastronomie zu ermöglichen.
Doch so richtig wollen die vielen Anbieter nicht von den über Jahre bewährten oder etablierten Ideen abrücken und gemeinsam mit anderen etwas auf den Weg bringen. Dabei wäre jetzt der richtige Zeitpunkt, denn die gute alte Zeit wird in der Form nicht zurückkehren.
Und es gibt leider noch ein anderes Gesicht auf St. Pauli. Viele Anwohner genießen die „Stille“ und würden sie gerne zum Satus Quo erheben. Immer wieder berichten Gastronomen, dass oft sogar junge Anwohner von der Corona bedingten Außengastronomie-Lösung nichts halten und auf ihren Schönheitsschlaf pochen, statt pragmatisch Ohrstöpsel zu nutzen.
Solidarität im Stadtteil sollte und kann in diesen Zeiten anders aussehen.
